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blu Februar 2018

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GESELLSCHAFT FOTO: B.

GESELLSCHAFT FOTO: B. NIENDEL GESCHICHTE KAMPF UM GERECHTIGKEIT 27. Januar: Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Lutz van Dijks Kampf um Gerechtigkeit für die vergessenen Opfer. Etwa achtzig Personen haben sich im Goethe-Institut am mittelalterlichen Hauptmarkt im Zentrum der beliebten Altstadt von Kraków eingefunden. Sie lauschen den Worten des Autors Lutz van Dijk und der Historikerin Joanna Ostrowska. Es ist der 4. Oktober und die polnische Buchpremiere von „Verdammt starke Liebe.“ Das Buch handelt von Stefan Kosinski, einem polnischen Mann, der sich 1941 sechzehnjährig in den deutschen Besatzungssoldaten Willi verliebt. Ein in jugendlichem Leichtsinn verfasster Liebesbrief an seinen an die Front einberufenen Freund brachte ihn in die Fänge der Nazis, die Homosexualität ebenso wie im Deutschen Reich hart bestraften. Er überlebte die Gräuel der KZ- Haft nur mit Glück. Das Schicksal seines Freundes Willi ist bis heute ungeklärt. Fast vier Jahrzehnte schwieg Stefan Kosinski über seine Jugendliebe, bevor er sie Lutz van Dijk erzählte und sich zum Comingout entschloss. 2003 verstarb er nach schwerer Krankheit. Bis zu seinem Tod litt er an den Folgen seiner KZ-Inhaftierung. Der Historiker Lutz van Dijk hat die Lebensgeschichte und die Freundschaft zu Stefan Kosinski in zwei Büchern dokumentiert. „Verdammt starke Liebe“ war das erste Buch. Es erschien vor 25 Jahren auf Deutsch. Die einfühlsame Erzählung wurde in 14 Sprachen übersetzt. Viele Schüler lasen das Buch im Unterricht. Selbst eine US-Filmfirma kaufte die Rechte, ohne sie jedoch umzusetzen. Und noch heute reist Lutz van Dijk, der seit vielen Jahren in Kapstadt lebt und ein Projekt für HIV-positive Kinder leitet, in die Niederlande und vor allem nach Deutschland, um in Schulen und Bibliotheken über das Leben von Stefan K. und über die Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus zu berichten. Erst jetzt erscheint das Buch auf Polnisch mit einem Nachwort der queeren Aktivistin und Historikerin Dr. Joanna Ostrowska von der Universität Warschau. Das Buch zu veröffentlichen war schwierig. Lange Zeit fand sich kein Verlag. Erst Spenden ermöglichten den Druck. HOFFNUNG IN SCHWIERIGEN ZEITEN In Polen regiert die rechtsnationale PiS- Partei. Sie gewann 2015 unter Vorsitz von Jarosław Kaczyński die Wahlen. Seitdem schleift sie die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie spielt mit Stereotypen, die sich gegen Lesben und Schwule oder auch Flüchtlinge richten. Der lange Schatten der kommunistischen Diktatur und eine starke konservative katholische Kirche prägen die polnische Gesellschaft. Der Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre kommt nicht bei allen Menschen an. Nationalismus,

GESELLSCHAFT Ressentiments und eine Anti-EU-Haltung prägen die polnische Regierungspolitik und sollen die Schwächen kaschieren. In diesen Zeiten erscheint Lutz van Dijks Buch. Die Buchpremiere endet in einer angeregten Diskussion. Zu einem Eklat kommt es nicht. Der befürchtete Besuch von polnischen Neonazis blieb aus. Joanna Ostrowska weist darauf hin, dass dieses Buch erst das zweite polnische Buch zum Thema Homosexualität und NS-Zeit in Polen überhaupt ist. Lutz van Dijk erkennt einen Hoffnungsschimmer: „Wichtig ist es nun, Bündnisse zu schließen, um auch unter widrigen Bedingungen gemeinsam für Veränderung zu streiten.“ AUSCHWITZ Etwa 80 Kilometer westlich von Kraków liegt die Kleinstadt Oświęcim. Über Jahrhunderte lebten hier Juden und Nichtjuden zumeist friedlich zusammen. Heute leben keine Juden mehr in Oświęcim. Oświęcim ist unter seinem deutschen Namen weltweit bekannt: Auschwitz. In und um Oświęcim errichteten die Nationalsozialisten Konzentrationslager. Das Außenlager Auschwitz-Birkenau steht als Synonym für den Zivilisationsbruch: Etwa 1,5 Millionen Menschen wurden hier ermordet, zumeist Juden wurden mit Zyklon B „vergast.“ Wer jemals das riesige Gelände mit den Stacheldrahtumzäunungen, den Holzbaracken und der Rampe der Selektion gesehen hat, der wird es nie vergessen. Beim Anblick der Gaskammern und der Krematorien erfüllte mich eine tiefe Scham. Am 27. Januar 1945 rückte die Rote Armee vor und befreite die wenigen Überlebenden des Vernichtungslagers. 2005 erklärte die UNO den 27. Januar zum internationalen Gedenktag. Beim Eintritt in das Stammlager von Auschwitz durchläuft man das Tor mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei.“ Hier befinden sich die meisten Ausstellungsräume. In den ehemaligen Baracken wird vor allem die Judenvernichtung dokumentiert, aber auch auf andere Opfergruppen hingewiesen, so zum Beispiel auf die Sinti und Roma. Erst nach langen Auseinandersetzungen wird auch an diese Opfergruppe in der Gedenkstätte Auschwitz angemessen erinnert. Dass es auch in Auschwitz homosexuelle Opfer gab, erfährt der Besucher nur, wenn LUTZ VAN DIJK er sich die Ausstellungstafeln mit dem von den Deutschen eingeführten Winkelsystem genau anschaut. Die KZ-Häftlinge mussten farbige Winkel nach den von den Nazis festgelegten Kategorien tragen. Hier ist auch der rosa Winkel für die schwulen Häftlinge dokumentiert. Nach polnischem Forschungstand konnten bislang 77 schwule Opfer dokumentiert werden. Der Hannoveraner Historiker Rainer Hoffschildt kommt auf 131. Doch die Forschung zu den schwulen Opfern in Auschwitz steht erst am Anfang und natürlich befanden sich in allen Opfergruppen auch Lesben und Schwule. Lutz van Dijk war von Anfang an Mitglied des Hamburger Auschwitz- Komitees, das sich um Bildungsangebote und die Erinnerung an den Holocaust bemüht. Bereits 1989 reiste er mit einer Gruppe schwuler Männer nach Auschwitz. FOTO: B. NIENDEL Seit einiger Zeit bemüht er sich um das Andenken an die homosexuellen Opfer in Auschwitz und steht im Austausch mit der Gedenkstätte. Im Oktober 2017 bot er erstmals den Guides der Gedenkstätte eine freiwillige Weiterbildung zum Thema an. Trotz der Tabuisierung des Themas fanden sich mehr als fünfzig Guides ein. ERINNERUNGSPOLITIK Im Zentrum der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik stand die Ermordung der Juden Europas. Etwa sechs Millionen Juden wurden ermordet. Doch es gab auch weitere Opfergruppen, so die Sinti und Roma. Des Weiteren waren neben anderen auch Homosexuelle betroffen. Nach heutigem Forschungsstand wurden etwa 5.000 bis 10.000 Homosexuelle in Konzentrationslager verbracht. Etwa 2/3 überlebten die Qualen nicht. Nur wenige Historiker, wie zum Beispiel Dr. Günter Grau, forschten zur Verfolgung von Schwulen im NS, die die Nazis mit dem 1935 verschärften §175 intensivierten. Die Historikerin Dr. Claudia Schoppmann machte durch ihre Forschung öffentlich, dass auch Lesben von Verfolgung betroffen waren. Manche, die nur auf die unterschiedliche Qualität der Verfolgung von Lesben und Schwulen verweisen, laufen Gefahr, damit die Verfolgung von Lesben im NS zu ignorieren. Nichtsdestotrotz wurde die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus lange Zeit verschwiegen. Nicht zuletzt deshalb, weil der §175 auch nach 1945 in Ost (wenngleich weit kürzer) und West weiter angewandt wurde. Viele Gedenkstätten und -orte in Deutschland weisen mittlerweile auf die Verfolgung der Homosexuellen hin. Der Deutsche Bundestag hat im vergangenen Jahr endlich die nach 1945 verfolgten Homosexuellen rehabilitiert und entschädigt. Der späte Zeitpunkt zeugt vom schwierigen Umgang mit der Thematik. Seit 1996 wird im Deutschen Bundestag am Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Die lesbischen und schwulen Opfer waren bislang kein Thema. Eine von Lutz van Dijk initiierte Petition möchte dies ändern. Der Autor Bodo Niendel reiste im Oktober 2017 für zehn Tage mit dem Hamburger Auschwitz-Komitee nach Oświęcim und Kraków.

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